Die Aufklärung will die Moral reformieren

Wie auf anderen Gebieten, so versteht sich die Aufklärung auch auf dem der Moral als eine Bewegung der Reform. Unzufrieden mit der herrschenden Moralität sowohl der Individuen als auch der gesellschaftlichen Institutionen sucht sie nach Möglichkeiten der praktischen Verwirklichung eines neuen Typs von Moral. Dieser sollte naturgemäßer, vernünftiger und nützlicher sein als der überkommene. Zu diesem Zweck werden soziale, ökonomische und politische Reformprogramme ausgearbeitet, vor allem eine Vielfalt von Erziehungskonzepten, in denen die Festigung und Verbesserung der Tugend zu den zentralen Zielen gehört. Aus demselben Grund werden neue Formen bürgerlicher Gesellschaft wie das Kaffeehaus, neue Formen der Organisation wie Freimaurerlogen und patriotischen Gesellschaften sowie neue Formen der Publikation wie Zeitschriften und Enzyklopädien genutzt und entwickelt. Besonderes Augenmerk gilt der medialen Verbreitung ihrer Ideen.

Der Roman gilt in der Aufklärung als wichtiges Mittel zur moralischen Erziehung

Die schöne Literatur, insbesondere das junge Genre des Romans, gilt im 18. Jahrhundert als ein wichtiges Mittel der moralischen Erziehung. Das Theater wird als eine moralische Anstalt betrachtet. Gegenüber moralphilosophischen Werken haben Romane einige entscheidende Vorteile: Sie sind begehrter, leichter verkäuflich und weitaus beliebter als jedes Werk über die Moral. Durch eine Kritik der herrschenden Vorurteile und der religiösen Dogmen, der ständischen Sozialstrukturen und der auf ihnen beruhenden rechtlichen Ungleichheit, der metaphysischen Denksysteme und Denkmethoden sollen die Voraussetzung für die umfassende Erneuerung des moralischen Denkens und Handelns geschaffen werden.

In der Epoche der Aufklärung soll die Moral auf sichere Fundamente gestellt werden, um ihre praktische Wirksamkeit umso besser entfalten zu können. Die Emanzipation, auf die die Aufklärung in allen ihren Ausprägungen abzielt, ist daher immer auch als eine Emanzipation zur Moral verstanden worden. Es geht um die Beseitigung der inneren und äußeren Hindernisse für Tugend und Moral. Obwohl diese theoretischen Bemühungen keineswegs auf die Philosophie beschränkt sind, bilden dieses ihr konzeptives Zentrum.

Die Ethik erlebt im 18. Jahrhundert eine Blütezeit

Nicht zufällig erlebt die Ethik, die systematische philosophische Reflexion der Moral, im 18. Jahrhundert eine Blütezeit nicht nur im Vergleich zur vorangegangenen, sondern auch zum nachfolgenden Jahrhundert. Dabei hat das ethische Projekt der Aufklärung einen kritische und eine konstruktive Seite. Die erste besteht in dem Bemühen, die Moral von möglichst allen übernatürlichen, religiösen und metaphysischen Zielen und Voraussetzungen zu befreien. Die konstruktive Seite besteht aus der Forderung, die Prinzipien und Methoden der neuen Philosophie des 17. Jahrhunderts für das Gebiet der Moral und Tugend fruchtbar zu machen.

Zu den Grundüberzeugungen der Aufklärung gehört, dass der Wille Gottes, das Zeugnis der Bibel oder die Autorität der Kirche nicht länger in Betracht kommen sollen, wenn es um die Moral insgesamt oder um die Geltung einzelner ihrer Normen geht. An die Stelle transzendenter Instanzen sollen gleichsam natürliche Quellen und Grundlagen treten, die für jeden Menschen kraft seiner Vernunft einsehbar und akzeptabel waren. Der Maßstab für Tugend und Laster hat seinen Ursprung allein in zwischenmenschlichen Vereinbarungen und ist vom göttlichen Gesetz ebenso unabhängig wie vom bürgerlichen Gesetz.

Von Hans Klumbies