In Europa konkurrieren viele verschiedene Identitäten miteinander

Andreas Wirsching zweifelt daran, dass sich die Frage nach einer europäischen Identität überhaupt sinnvoll beantworten lässt. Für ihn ist allzu offenkundig, dass es in Europa zumindest viele und miteinander konkurrierende Identitäten gibt und dass sich diese Identitäten seit dem Ende des Kommunismus nachhaltig gewandelt haben. Andreas Wirsching ergänzt: „Überdies scheint auch die kulturelle Identifikation der Bürger in Europa mit ihrem Kontinent noch nicht soweit vorangeschritten zu sein, dass sich ohne weiteres ein Gemeinschaftsgefühl, europäischer Zugehörigkeit, geschweige denn von Öffentlichkeit sprechen ließe.“ Andreas Wirsching ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen „Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert“ und „Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit.“

Die europäische Identität steht in Verbindung mit Kolonialismus und Imperialismus

Tatsächlich suggeriert die Rede von einer europäischen Identität für Andreas Wirsching meist auch die Wirksamkeit von spezifischen Erfolgsfaktoren, die in die europäische Geschichte hineingelesen werden. Solche Erfolgsfaktoren können seiner Meinung nach alles Mögliche sein, eines haben sie aber gemeinsam: Sie sind abhängig von der Zeit und vom Standort. Andreas Wirsching nennt ein Beispiel: „So zögerten um 1900 nur wenige europäische Intellektuelle, Unternehmer oder Politiker, die Segnungen der europäischen Wissenschaft und Technik als unverbrüchlich gültigen Zivilisationserfolg zu deklarieren.“

Zugleich wurde dieser Erfolg aber laut Andreas Wirsching imperialistisch ausgebeutet und als quasi natürliche Grundlage europäischer Weltüberlegenheit gewertet. Tatsächlich ist die Rede von Europa und seiner Identität deshalb in weiten Teil der übrigen Welt mit den Erfahrungen des europäischen Kolonialismus und Imperialismus vergiftet. Andreas Wirsching fügt hinzu: „Seine modernen Ingredienzien – Nation, Demokratie und technische Zivilisation – haben eine dezidiert exklusive Wirkung entfaltet und die Kolonialvölker aus der sich bildenden Gemeinschaft kategorisch ausgeschlossen.“

Identität ergibt sich aus der Geschichte und der Erinnerung

Spätestens seit den 1990er Jahren hat sich bei den europäischen Intellektuellen herumgesprochen, dass der Begriff der „Identität“ zumindest dann problematisch ist, wenn er normativ verwendet wird. Andreas Wirsching rät: „Man wird daher besser von kulturellen Selbstbesinnungen, Selbstthematisierungen sprechen, die Aufschluss über den Bewusstseinsstand der Europäer geben.“ Wenn man den Begriff „Identität“ allerdings analytisch verwendet, kommen zwei wichtige Aspekte zum Vorschein.

Andreas Wirsching erklärt: „Zunächst impliziert jeder Versuch zur Konstruktion von Identität zugleich auch Abgrenzungen und die Konstruktion von „Alterität“, das heißt des „Anderen“, des Nichtdazugehörigen, ja des Fremden.“ Wenn Identität in diesem Sinne etwas Individuelles ist, so ergibt sie sich laut Andreas Wirsching ferner aus der Geschichte und der Erinnerung. Europa muss dabei selbstreflexiv vorgehen, das heißt sich seiner historischen Brüche und Schattenseiten, aber auch seiner Ambivalenzen und zwiespältigen Folgen seiner Geschichte bewusst sein.

Von Hans Klumbies