Alexander Mitscherlich kritisiert den Städtebau in Deutschland

Der Einbruch der industriellen Technik erwies sich als gegen die Stadt gerichtet. In den ersten Phasen lagerte sie sich in den Städten an, breitete sich anschließend ins flache Land aus und zerstörte zugleich die vorindustrielle Substanz der Städte bis auf museale Reste aus. Sie schuf in großer Quantität Siedlungsverdichtungen und Ballungsräume der Produktion. Alexander Mitscherlich schreibt: „Nichts anderes als ein in Städten geschultes Bewusstsein hat die technische Welt hervorgebracht – und diese technische Welt verlangt nun ihrerseits hohe Bewusstheit als Integrationsleistung.“ Die Monotonie der Fensterreihung der meisten Hochhäuser und der starren Addition von Siedlungshäusern ist für Alexander Mitscherlich ein abstoßender Beweis für die schwache Fähigkeit des Menschen, gestalterisch mit den biologischen Prozessen der Vermehrung und der technisch ausgelösten Ballung der Städte Schritt zu halten.

Es herrscht ein Tabu der Besitzverhältnisse an Grund und Boden in den Städten

Alte Städte hatten laut Alexander Mitscherlich so etwas wie ein Herz. Die Herzlosigkeit, die Unwirtlichkeit der neuen Bauweise hat seiner Meinung nach jedoch eine ins Gewicht fallende Entschuldigung auf ihrer Seite. Das Tabu der Besitzverhältnisse an Grund und Boden in den Städten, das jede schöpferische und tiefgreifende Neugestaltung unmöglich macht. Die Misere des deutschen Wideraufbaus hängt eng mit der Zufälligkeit der Besitzverteilung, den spekulativen Bodenpreisen sowie mit dem ausgebliebenen politischen Versuch zur räumlichen Neuordnung der Stadtviertel zusammen.  

Alexander Mitscherlich kritisiert: „Denn Privatbesitz, unbeschadet seiner unter Umständen für die Gemeinschaft tödlichen Auswirkungen, ist ein Tabu, ein Fetisch, an den niemand zu rühren wagte. Keine der gesetzgebenden Körperschaften, keine der Parteien.“ Jeder Einsichtige weiß seiner Meinung nach, dass die Notwendigkeit, zu einer Neuregelung der Bodenbesitzverhältnisse in den Städten zu kommen, nicht mit Ideologie zu tun hat. Sondern sie stellt eine Konsequenz der veränderten Lage dar, in der sich die Menschen befinden.

Die Bevölkerung muss ein Bewusstsein für freiheitliche Städteplanung entwickeln

Eine freiheitliche Städteplanung ist laut Alexander Mitscherlich so lange unmöglich, als es kein Bewusstsein ihrer wahren Hemmnisse in der Bevölkerung gibt. Es ist nicht zu erwarten, dass die politischen Parteien, den Besitzstand antastende Forderungen erheben werden, solange sie nicht von der Wählerschaft unter Druck gesetzt werden. Alexander Mitscherlich appelliert an die Zivilcourage der Städteplaner und Architekten, im Elan des Entwerfens, Voraus- und Umdenkens nicht zu erlahmen.

In dem Tabu von der Heiligkeit des Besitzes, besonders des Grundbesitzes stecken für Alexander Mitscherlich nicht zu unterschätzende emotionale Kräfte. Er schreibt: „Sie zu entdecken, zu entziffern und der Einsicht zugänglich zu machen, ist ein heißes Problem.“ Erst eine genau bezeichnete Unzufriedenheit der ausgebeuteten Besiedler der Städte kann eine Änderung erzwingen. Vorerst können die Städteplaner selbst beste Stadtentwürfe nicht umsetzen, weil sie gegen den Egoismus der Besitzenden machtlos sind.

Kurzbiographie: Alexander Mitscherlich

Der Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller Alexander Mitscherlich, geboren am 20. September 1908 in München, leitete von 1960 bis 1976 das von ihm gegründete Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main. Im Jahr 1969 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zu seinen Hauptwerken zählen: „Auf dem Weg zu vaterlosen Gesellschaft“, „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“, „Die Unfähigkeit zu trauern“ sowie „Die Idee des Friedens“. Alexander Mitscherlich starb am 26. Juni 1982 in Frankfurt am Main.

Von Hans Klumbies